In meinem vorletzten Beitrag habe ich den für eine Orchesterprobe typischen Ablauf thematisiert und dabei auch die stark monologische Ausrichtung sowie die Orientierung an einem kollektiven Ziel, nämlich die Aufführung eines Werkes vor Publikum, dargelegt. Ausgehend von diesen Merkmalen kann die Interaktion in der Probe als institutionell aufgefasst werden: Führung, Autorität, ritualisierte Handlungsmuster, Interaktionsmodelle, Fachsprachlichkeit, Sprachökonomie und Zielorientiertheit spielen in der Kommunikation eine Rolle und prägen deren Formalisierung und Funktionalisierung.
Besonders auffallend für institutionelle Interaktion sind die spezielle Gesprächsorganisation und die Systematik des Sprecherwechsels, die sich nicht mit dem Muster in Alltagsgesprächen, in denen sich Redebeiträge zwischen den Gesprächsteilnehmer/innen abwechseln und das Rederecht symmetrisch verteilt ist, decken. Im Kontext der Orchesterprobe liegt das Rederecht bei dem/der Dirigent/in, es besteht eine Asymmetrie zwischen den Beteiligten an der Interaktion:

In diesem Ausschnitt einer Probe des Orchestre de l’Opéra de Rouen wird ersichtlich, dass (fast) kein verbaler Sprecherwechsel auftritt, der Dirigent spricht die meiste Zeit, verbale Äußerungen von Musiker/innen tauchen nur als evaluative Einwürfe („perfect“) oder als leise Gespräche, die mehr oder weniger im Hintergrund verlaufen, auf. Um das Rederecht zu erhalten, machen sich die Musiker/innen zumeist durch ein Handzeichen ersichtlich und werden folglich vom/von der Dirigent/in dran genommen, um ihre Fragen oder Kommentare zu erläutern – vergleichbar mit dem Drankommen in der Schule.
Neben der Einschränkung für verbale Äußerungen gibt es auch Regeln für die musikalischen Beiträge der Musiker/innen: erst wenn der/die Dirigent/in das Kommando für einen Einsatz gibt – gestisch oder verbal – haben die Musiker/innen die Erlaubnis auf ihren Instrumenten zu spielen. Diese Regeln werden nicht immer eingehalten, auch in dem Ausschnitt oben gibt ein Oboist laute Töne auf seinem Instrument von sich, während der Dirigent spricht. Ähnliche Überlappungen treten auf, sobald der/die Dirigent/in das Spielen der Musiker/innen unterbricht, um eine verbale Anweisung zu machen: während der/die Dirigent/in bereits spricht, spielen manche Musiker/innen immer noch und die Musik klingt nur langsam ab.
Interessant zu sehen ist, dass diese Asymmetrien nicht vorab determiniert sind, befinden sich doch Dirigent/in und Musiker/innen hinsichtlich ihrer musikalischen Expertise mehr oder weniger auf demselben Niveau. Vielmehr kristallisiert sich diese eigene Interaktionsorganisation im Laufe der Probe zwischen Dirigent/in und Musiker/innen heraus und die asymmetrische Rollenverteilung wird lokal hergestellt. Dies bedeutet, dass das Rederecht verhandelbar ist, es kann durchaus auch symmetrisch verteilt sein, z.B. wenn sich der/die Dirigent/in die Meinungen der Musiker/innen zu bestimmten musikalischen Passagen einholt.
Diese spezifische Form der Gesprächsorganisation in der Orchesterprobe trägt dazu bei, dass ein institutioneller Kontext erzeugt, aufrecht erhalten und etabliert wird. Ohne Regeln und Handlungsmuster wäre es nämlich nicht möglich, die Tätigkeiten verschiedener Personen in Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel abzustimmen, oder in anderen Worten: es wäre nicht möglich, ein gemeinschaftliches Produkt im Sinne der öffentlichen Konzertaufführung auszuarbeiten.
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