Ein kleines Experiment…

Im heutigen Blogbeitrag möchte ich ein kleines Experiment starten. Und zwar habe ich letztens einen Artikel von Lorenza Mondada (hier verlinkt) zu stillen körperlichen Handlungen (silent embodied actions) gelesen. Damit meint sie Handlungen, die in einer Interaktion nicht mit Sprache, sondern mit anderen Ressourcen vollzogen werden, wie z.B. durch Blickverhalten, Körperbewegungen, Körperpositionen, Gesten, usw. In dem Artikel reflektiert sie auch die Herausforderungen, die dabei auf den/die Forscher/in in der Handhabung des Transkripts zukommen. Denn in einem Transkript können nicht alle Aspekte, die in der Interaktion eine Rolle spielen, festgehalten werden, bzw. bestimmt die Genauigkeit der Analyse, wie feingliedrig das Transkript aussehen muss.

Als Forschende/r muss man daher die Entscheidung treffen, was in das Transkript hinein soll und gleichzeitig auf was in der Analyse Wert gelegt wird. Ich möchte das an einem Beispiel aus meinen Daten demonstrieren. Hier zunächst ein erster Transkriptausschnitt:

Transkript Hermus I.jpg

In dem Auszug spricht der Dirigent ein Problem an, das den Auftakt (le levé) betrifft. Er singt die betroffene Stelle auch vor (Z04-05) und fügt in Z06 noch eine Erklärung an, warum der Auftakt gefährlich ist (especially quand c’est long), nämlich, wenn er zu lang gespielt wird. In Z07 singt er besagte Stelle ein weiteres Mal vor und weist in Z08 an, im Tempo zu bleiben. Er schließt die Anweisung mit einer Art Rückfrage (oui?) – ebenfalls in Z08 -, auf die er eigentlich keine Antwort von den Musikern/innen erwartet, durch die er aber nachdrücklich betont, was wichtig ist. In Z09 evaluiert er die bereits gespielte Version der Musiker/innen, im Sinne von ‚die Stelle ist so bereits gut gespielt, aber es geht noch besser‘.

So könnte ich die Analyse bereits stehen lassen, denn sie berücksichtigt fast alles, was auch im Transkript steht (mit Ausnahme der Tonhöhenbewegungen <<h> ‚hoch‘ und <<t> ‚tief‘ in Z04-05 und dem accelerando im Vorsingen in Z07). In dem Auszug spielen aber nicht nur die verbalen Äußerungen des Dirigenten eine Rolle, sondern es kommen noch andere Elemente hinzu, die ebenfalls in der Analyse berücksichtigt werden sollten:

Transkript Hermus II

Durch die Erweiterung des Transkripts durch die multimodalen Elemente wird klar, dass der Dirigent in Z01 die Musik unterbricht. Und zwar hört er auf zu dirigieren und er verwendet auch einen Diskursmarker auf Englisch (okay), der hier als Übergangssignal von Musik- zu Besprechungsphase interpretiert werden kann. Außerdem leitet er mit sorry eine Art Erklärung (account) für seine Unterbrechung ein, die er in Z02 auf Französisch verbalisiert (‚es gibt ein Problem mit dem Auftakt‘). Im ersten Transkript ist Z01 ohne diese zusätzlichen Informationen nicht wirklich zuordenbar.

Da die Musiker/innen nicht sofort aufhören zu spielen, winkt der Dirigent die Musik in Z02 zusätzlich ab – durch eine abwinkende Geste nach unten -, es dauert aber noch bis Z03, bis wirklich alle aufhören zu spielen. Das kann wohl damit erklärt werden, dass Musiker/innen grundsätzlich den Drang verspüren, eine musikalische Phrase zu Ende zu führen, auch wenn sie unterbrochen werden. Gleichzeitig handelt es sich auch nicht um eine übergangsrelevante Stelle (transition relevant place = TRP) im herkömmlichen Sinn – d.h. um eine Stelle, wo ein Beitrag potenziell abgeschlossen ist -, sondern der Dirigent unterbricht die Musik dort, wo ihm ein Fehler auffällt.

In Z04 und Z05 singt der Dirigent dann zwei Mal hintereinander die problematische Stelle vor. Zeitgleich setzt er Gesten ein, bei denen er zuerst mit der rechten Hand nach links über die linke Hand streicht, gefolgt von einer streichenden Bewegung nach rechts. Diese Geste erinnert stark an einen Bogenstrich. Dieselbe Geste kommt auch während des Singens in Z07 zum Einsatz, Z06 fügt sich als verbaler Zusatz in die gesungenen und gestischen Demonstrationen ein. Der Dirigent singt hier also drei Mal die gewünschte Variante der Stelle vor und gebraucht immer dieselbe Geste. Warum er drei Mal dieselbe Stelle vorsingt, kann wohl damit erklärt werden, dass in den beiden Versionen in Z04-05 die verbale Spezifizierung von Z06 noch fehlt. Außerdem greift der Dirigent das Erklärte (‚vor allem wenn die Stelle zu lang gespielt wird‘) in seinem Singen in Z07 (als Soll-Version) auf, denn er singt hier die Stelle schneller vor als in Z04-05.

Wir können in unserem Transkript noch einen Schritt weiter gehen und noch weitere Elemente mit dazu nehmen (für Z01, Z08 und Z09):

Transkript Hermus IIIIn dieser Transkription habe ich auch noch die Blicke und die Drehung des Oberkörpers des Dirigenten mit dazu genommen. Während des okay in Z01 blickt der Dirigent nach links, d.h. zu den Violinen und zeigt dadurch an, dass er von dieser Richtung etwas (Falsches) gehört hat, das der Grund für die Unterbrechung sein könnte. Kurz darauf blickt er auf die Partitur – es kann angenommen werden, dass er hier die Stelle sucht – und dann wieder nach links. Dieses Mal nimmt er aber seinen Oberkörper mit dazu und signalisiert damit den restlichen Musikern/innen, dass das, was nun folgt, diejenigen betreffen wird, die links vom Dirigenten sitzen, und zwar die Violinen (erste und zweite Geige). Diese Position hält der Dirigent bis Z08, erst bei der rückversichernden Frage oui? blickt er wieder auf die Partitur und dreht seinen Oberkörper hin zum Dirigierpult bzw. in eine gerade Position. Die weiter oben beschriebene Geste des Dirigenten, die stark an einen Bogenstrich erinnert, wird demnach wohl als eine Imitation des Bogenstrichs der Violinen an der problematischen Stelle in der Partitur zu interpretieren sein.

In dieser schrittweisen Erweiterung des Transkripts haben wir beobachtet, dass das Verbale alleine ganz und gar nicht dem gerecht wird, was in der Orchesterprobe eigentlich passiert. Für die Strukturierung und Ordnung der Interaktion spielt nämlich so viel mehr eine Rolle: die Gestik des Dirigenten, seine Körperposition und auch sein Blickverhalten. Im Zusammenspiel dieser multimodalen Elemente kann der Dirigent sehr genau zu verstehen geben, wen er für wie lange adressiert (hier: die Violinen bis Z08), um welche Stelle es sich handelt und wie die Stelle zu spielen ist.

Ich finde, dass dieses kleine Experiment sehr schön aufzeigt, wie in der Konversationsanalyse gearbeitet wird und was auch alles analysiert werden kann. Die Arbeit an und mit Videodaten wird also sicherlich nie langweilig… 🙂

mm

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